| Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz

Unzureichende Begründung der Nicht-Vorlage an den EuGH verletzt das Recht auf den gesetzlichen Richter

Pressemitteilung Nr. 5/2022

Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in Koblenz hat mit Beschluss vom 22. Juli 2022 einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die die Verpflichtung nationaler Gerichte zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH im Zusammenhang mit dem in den Lebensversicherungsrichtlinien verbürgten Wider­spruchsrecht und der Frage dessen rechtsmissbräuchlicher Ausübung betraf.

Der Beschwerdeführer erklärte im Jahr 2016 den Widerspruch zu einem 2002 abgeschlossenen Lebensversicherungsvertrag, der zum vereinbarten Vertragsende im März 2012 bereits vollständig abgewickelt worden war. Er begründete die Zulässigkeit seines Widerspruchs mit einer fehlerhaften Belehrung über dieses Recht und mit unzu­reichenden Verbraucherinformationen.

Das Landgericht Trier wies die unter anderem auf Rückabwicklungsansprüche in Höhe von 17.319,51 € gerichtete Klage des Beschwerdeführers ab, da der Versicherungs­vertrag nicht aufgrund des Widerspruchs unwirksam geworden sei. Dabei ließ es offen, ob die Belehrung über das Widerspruchsrecht ordnungsgemäß war. Der Ausübung des Rücktrittsrechts stehe der Einwand des Rechtsmissbrauchs wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben entgegen. Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass der Bestand des Vertrages über eine sehr lange Zeit – auch noch nach endgültiger Vertragsabwick­lung – nicht in Frage gestellt worden sei.

Das Oberlandesgericht Koblenz wies die hiergegen gerichtete Berufung im Beschluss­wege als unbegründet zurück. Es treffe entgegen der Auffassung des Beschwerdefüh­rers nicht zu, dass ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nur festgestellt werden könne, wenn die vom EuGH entwickelten Voraussetzungen eines Rechtsmissbrauchs – ins­besondere ein subjektives Element – vorlägen. Der EuGH erkenne an, dass die natio­nalen Gerichte einen Rechtsmissbrauch nach nationalem Recht prüfen und feststellen dürften, wenn – wie vorliegend – keine europäischen Regelungen zum Rechtsmiss­brauch getroffen seien. Demgegenüber sei die Entscheidungen des EuGH, auf die der Beschwerdeführer sich berufe, zu Verbraucherkrediten und nicht zum Lebensversiche­rungsrecht ergangen und nicht darauf übertragbar. Auch der Sinn der Lebensversiche­rungsrichtlinien werde durch die Anwendung der nationalen Grundsätze rechtsmiss­bräuchlichen Verhaltens nicht gefährdet. Die hiergegen gerichtete Anhörungsrüge wies das Oberlandesgericht zurück.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wandte sich der Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts und machte eine Verletzung des Willkürverbots im Hinblick auf den gesetzlichen Richter und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz geltend. Insbesondere habe das Oberlandesgericht willkürlich gegen seine Pflicht zur Vorlage an den EuGH verstoßen. Es habe nämlich eine klare oder geklärte Rechtslage des Unionsrechts, die eine Vorlage entbehrlich machen würde, ohne nachvollziehbare Begründung unterstellt. Es sei insoweit schon zweifelhaft, ob der Rechtsmissbrauchs­einwand in Fällen unzureichender Belehrung über das Widerspruchsrecht unionsrecht­lich überhaupt angewendet werden dürfe. Eindeutig geklärt sei spätestens seit einer Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2021 jedenfalls, dass der Berufung auf ein unionsrechtlich begründetes Widerspruchsrecht eine allein nach nationalen, aus­schließlich objektiven, Kriterien beurteilte Rechtsmissbräuchlichkeit nicht entgegen­gehalten werden dürfe; vielmehr müsse stets auch ein subjektives Element vorliegen. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hielt die Verfassungsbeschwerde dagegen für unzulässig, da die Vorlagepflicht nicht, jedenfalls aber nicht willkürlich, verletzt worden sei. Die angegriffene Entscheidung sei vertretbar und überzeugend begründet und stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sowie zahlreicher Obergerichte.

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts, mit dem die Berufung zurückgewiesen wurde, verletze den Beschwerdeführer in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 6 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV –). Der EuGH sei gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 LV. Komme ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV – nicht nach, könne dem Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter ent­zogen sein. Dabei stelle nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter dar. Eine Ver­letzung von Verfassungsrecht liege nur vor, wenn die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht mehr verständlich erscheine und offensichtlich unhaltbar sei. Offensichtlich unhaltbar gehandhabt werde Art. 267 Abs. 3 AEUV im Falle der Unvollständigkeit der Rechtsprechung unter anderem dann, wenn das Fachgericht das – grundsätzlich von der Vorlagepflicht befreiende – Vorliegen einer von vornherein eindeutigen oder zweifelsfrei geklärten Rechtslage ohne sachliche bzw. sachlich einleuchtende Begründung annehme. Die Pflicht der Fachgerichte zur Begrün­dung folge aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Rechts auf den gesetz­lichen Richter. Dabei wirke die Integrationsverantwortung des Grundgesetzes und der Landesverfassung auf diese Begründungspflicht ein. Die unionale Vorlagepflicht sowie die auch dem Unionsrecht entstammende Pflicht zur Begründung der Nichtvorlage würden nämlich verfassungsrechtlich durch das Recht auf den gesetzlichen Richter abgesichert, wobei die Verfassungsgerichte ihre Integrationsverantwortung durch die Kontrolle der Fachgerichte auf die Beachtung dieser Pflichten unter der Perspektive der Garantie des gesetzlichen Richters wahrnähmen. Das Fachgericht müsse deshalb Gründe angeben, die dem Verfassungsgericht die gebotene Kontrolle am Maßstab der Verfassung überhaupt erst ermöglichten. Sei die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf eine Vertretbarkeitsprüfung beschränkt, müsse sich umgekehrt gerade die Vertretbar­keit der Handhabung der Vorlagepflicht aus der Begründung des Fachgerichts ergeben. Das Fachgericht müsse eine nachvollziehbare, vertretbare Begründung dafür geben, dass die maßgebliche Rechtsfrage durch den EuGH bereits entschieden oder die rich­tige Antwort auf diese Rechtsfrage derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.

Diese Anforderungen habe das Oberlandesgericht nicht gewahrt. Es sei nämlich nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet gewesen, ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH dazu durchzuführen, ob und unter welchen Voraussetzungen es mit Unionsrecht vereinbar ist, wenn die Ausübung eines durch die Lebensversicherungsrichtlinien garantierten Widerspruchsrechts wegen Rechtsmissbrauchs des Versicherungs­nehmers ausgeschlossen wird, obwohl dieser nicht ordnungsgemäß über sein Recht belehrt wurde. Insoweit greife keine der vom EuGH anerkannten Ausnahmen von der Vorlagepflicht. Insbesondere sei die Beantwortung der entscheidungserheblichen Fragen – die sich der Richtlinie nicht eindeutig entnehmen lasse – in der Recht­sprechung des EuGH nicht erschöpfend geklärt. Im Hinblick auf die vergleichbaren Zwecke der jeweiligen Vertragslösungsrechte der Verbraucherkreditrichtlinie und der Lebensversicherungsrichtlinien folge dies nicht zuletzt aus der jüngsten Rechtspre­chung des EuGH zu den Grenzen des Rechtsmissbrauchseinwands bei der Ausübung des Widerrufsrechts im Verbraucherkreditvertragsrecht.

Das Oberlandesgericht habe keine hinreichend tragfähige Begründung gegeben, warum es gleichwohl von einer Vorlage abgesehen habe. Es könne sich aufgrund der jüngsten Entscheidung des EuGH zur Verbraucherkreditrichtlinie zunächst nicht ohne Weiteres auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Handhabung des Rechtsmissbrauchseinwands im Lebensversicherungsrecht und des Bundes­verfassungsgerichts, das diese unter dem Blickwinkel des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht beanstandet hatte, stützen. Auch im Übrigen lieferten die Ausführungen des Ober­landesgerichts keine vertretbare und nachvollziehbare Begründung für das Absehen von einer Vorlage. So habe sich das Oberlandesgericht insbesondere nicht hinreichend mit der aktuellen Rechtsprechung des EuGH und mit den Zielen des in den Lebens­versicherungsrichtlinien gewährleisteten Rücktrittsrechts – bzw. deren möglicher Beein­trächtigung durch die Anwendung des nationalen Rechtsmissbrauchseinwands – aus­einandergesetzt. 

Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter erfolgreich war, könne schließlich dahinstehen, ob zugleich der vom Beschwerdeführer ebenfalls gerügte allgemeine Justizgewährleistungsanspruch verletzt sei.

Beschluss vom 22. Juli 2022, Aktenzeichen: VGH B 70/21


Die Entscheidung kann hier abgerufen werden.

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