| Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz

Herausgabe von Unterlagen zu Geschwindigkeitsmessgeräten nur bei Relevanz für die Verteidigung – Beschwerdeführer trotzdem zum zweiten Mal erfolgreich

Pressemitteilung Nr. 6/2022

Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in Koblenz hat mit Beschluss vom 27. Oktober 2022 einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, der eine Verurteilung wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes zugrunde lag.

Der Beschwerdeführer war Betroffener in einem Bußgeldverfahren, in dem ihm ein Geschwindigkeitsverstoß vorgeworfen wurde. Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte mittels eines in einem Anhänger (sog. Enforcement Trailer) eingebauten Messgerätes. Nachdem der Beschwerdeführer gegen den Bußgeldbescheid aus dem Jahr 2018 Ein­spruch eingelegt und Einsicht in verschiedene Unterlagen zu Messung und Messgerät begehrt hatte, kam es im Februar 2019 zu einer Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Wittlich, das den Beschwerdeführer zu einer Geldbuße in Höhe von 120 Euro ver­urteilte. Sein Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde blieb bei dem Oberlandes­gericht Koblenz ohne Erfolg. Eine erste Landesverfassungsbeschwerde des Beschwer­deführers (VGH B 19/19) hatte seinerzeit teilweise Erfolg. Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz hob die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz im Januar 2020 wegen eines Verstoßes gegen die Grundrechte auf effektiven Rechtsschutz und den gesetzlichen Richter auf, da das Oberlandesgericht im Rechtsmittelverfahren die unein­heitliche obergerichtliche Rechtsprechung zum Recht auf Einsichtnahme in die Aufbau­anleitung eines Messgerätes nicht berücksichtigt habe (siehe dazu Pressemitteilung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz Nr. 2/2020 vom 24. Januar 2020).

In der Folgezeit hob das Oberlandesgericht Koblenz das Urteil des Amtsgerichts Wittlich auf. Es kam zu einer erneuten Hauptverhandlung, die Gegenstand der vorliegenden Verfassungsbeschwerde ist. Auch in diesem zweiten Verfahren begehrte der Beschwerdeführer Einsicht in verschiedene, nicht in der Bußgeldakte enthaltene Unter­lagen, unter anderem in die Reparatur- und Wartungsnachweise des Messgeräts sowie in die sog. Case-List bzw. Statistikdatei, die Informationen über die Anzahl der vom Messgerät erfassten Fahrzeuge und Geschwindigkeitsüberschreitungen sowie über vom Gerät selbständig verworfene Geschwindigkeitsmessungen enthält. Beide Ein­sichtsanträge blieben wiederum ohne Erfolg; das Amtsgericht Wittlich verurteilte den Beschwerdeführer im Januar 2021 erneut wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüber­schreitung zu einer Geldbuße, nunmehr – aufgrund der Verfahrensdauer – in Höhe von 80 Euro. Seine gegen die amtsgerichtliche Entscheidung erhobene Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht Koblenz im Juli 2021.

Mit seiner erneuten Verfassungsbeschwerde wandte sich der Beschwerdeführer gegen die im Jahr 2021 ergangenen Entscheidungen des Amtsgerichts Wittlich sowie des Oberlandesgerichts Koblenz. Er machte unter anderem geltend, die Nichtüberlassung der Reparatur- und Wartungsnachweise des Messgeräts sowie der Case-List bzw. Statistikdatei verstoße gegen das Recht auf ein faires Verfahren.

Auch diese Verfassungsbeschwerde hatte nun Erfolg. Allerdings verstoße das Urteil des Amtsgerichts Wittlich nicht schon deshalb gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV –), weil dem Beschwerdeführer keine Einsichtnahme in die Case-List bzw. Statis­tikdatei ermöglicht worden sei. Zwar folge aus dem Recht auf ein faires Verfahren im Grundsatz der Anspruch des Betroffenen eines Bußgeldverfahrens, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu erlangen, die – wie etwa die Case-List bzw. Statistikdatei – nicht zur Buß­geldakte genommen wurden, da hierdurch dem Gedanken der „Waffengleich­heit“ Rech­nung getragen werde. Allerdings bestehe ein solcher Anspruch nicht unbe­grenzt, da gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten eine sach­gerechte Eingrenzung des Informationszugangs erforderlich sei. Das Einsichts­recht bestehe nur für eine solche Information, die im Zusammenhang mit dem jeweiligen Ord­nungswidrigkeitenvorwurf stehe und eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung auf­weise. Ein Dokument, dem bei objektiver Betrachtung ganz offensichtlich keine Bedeu­tung für die Verteidigung zukomme, müsse daher nicht zur Verfügung gestellt werden, auch wenn der Betroffene dies anders beurteile. Die Case-List bzw. Statistik­datei gebe zwar Auskunft über die Anzahl der vom Messgerät in einem bestimmten Zeitraum ins­gesamt festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitungen und der erfass­ten Fahrzeuge, diese Informationen ließen aber ersichtlich keine Rückschlüsse auf die Messgenauig­keit bzw. Messrichtigkeit der (nicht annullierten) konkreten Einzelmessung zu. Selbst eine hohe Annullationsrate gebe keinen Hinweis auf fehlerhafte oder auffäl­lige Messun­gen. Sie sei vielmehr gerade Ausdruck einer funktionierenden Qualitätsprüfung durch das Gerät selbst.

Die Verfassungsbeschwerde sei aber deswegen erfolgreich, weil dem Beschwerdefüh­rer keine umfassende Auskunft zu den Reparatur- und Wartungsunterlagen des kon­kreten Messgerätes – auch über den Tag der Messung hinaus – erteilt worden sei. Anders als die Case-List bzw. Statistikdatei seien diese Informationen zur Aufdeckung einer Funktionsbeeinträchtigung des Messgerätes nicht schlechthin ungeeignet. Dies habe der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz bereits mit Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 – (Pressemitteilung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz Nr. 8/2021 vom 15. Dezember 2021) entschieden. Das Amtsgericht Wittlich habe diese Rechtsprechung in seiner Entscheidung vom Januar 2021 aber naturgemäß noch nicht berücksichtigen können.

Beschluss vom 27. Oktober 2022, Aktenzeichen: VGH B 57/21

Die Entscheidung kann hier abgerufen werden.

Teilen

Zurück